Lieber Marco Polo,
Grüße aus Venedig!
Es ist nicht mein erster Besuch in deiner Heimatstadt, aber so lange bin ich bisher noch nie geblieben. Die ersten zehn Tage musste ich mich wegen einer Pandemie in Quarantäne begeben. Das war echt ein Erlebnis. Dank der Isolation hatte ich dann allerdings auch genug Zeit, ein paar Überlegungen anzustellen und genüsslich den berühmten Bericht über deine Reise durch Asien zu lesen, den dein Freund Rustichello da Pisa anhand der Erinnerungen geschrieben hat, die du ihm während eurer gemeinsamen Zeit im Gefängnis von Genua anvertraut hast. Was mich wirklich verblüfft hat, war zu erfahren, dass das Buch noch während deiner Lebzeiten in viele europäische Sprachen übersetzt wurde. Der englische Titel lautet heute zwar weithin The Travels of Marco Polo, einige ältere Ausgaben heißen aber auch The Description of the World, ganz im Sinne des ursprünglichen französisch-venezianischen Titels Devisement du Monde. Seit seiner ersten Veröffentlichung wird häufig angezweifelt, ob du tatsächlich alle diese Orte besucht hast oder einfach die Geschichten anderer Reisender nacherzählst. Manch einer hegt sogar den Verdacht, dass der italienische Titel des Buches, II Milione oder Der Milione auf Deutsch, auf die Anzahl der darin enthaltenen Lügen anspielt. Ob das stimmt oder nicht, eins ist sicher, deine Reisen haben auf jeden Fall viele andere Reisende motiviert und dein Ruf als Pionier und legendärer Entdecker hat sich über die letzten 700 Jahre gehalten.
Meine Reise
Als Künstler, der sich für seine Arbeiten häufig von seinen eigenen Reisen inspirieren lässt, würde ich gerne ein paar meiner Erlebnisse mit dir teilen. Zwar kann ich nicht wie du eine Million Geschichten erzählen, aber ich möchte in diesem Brief meine persönlichen Überlegungen zur gespaltenen Welt von heute beschreiben, zusammen mit ein paar Fragmenten aus Geschichten, die mir andere Menschen auf meiner Reise erzählt haben.
Bevor ich jedoch in meine Geschichte einsteige, sollte ich noch erwähnen, dass ich im 21. Jahrhundert lebe. Im Jahr 2021 (MMXXI), um genau zu sein. Mein Name ist Navin und ich bin ein Mann aus dem Fernen Osten. Mein Heimatland ist unter dem Namen Königreich Thailand bekannt, hieß auf den alten Karten aber Siam. Zu deinen Lebzeiten galt es wahrscheinlich als Teil von Suvarṇabhūmi, ein Name aus der antiken Literatur, der Land des Goldes bedeutet. Es war einer der vielen Orte in der geographischen Region, die heute als Südostasien bekannt ist. Nach deiner Geschichte zu urteilen bist du wahrscheinlich auch durch diesen Teil der Welt gekommen, es gibt aber keine Aufzeichnungen, dass du zu einem der verschiedenen Königreiche gereist bist, die damals über mein Heimatland geherrscht haben. Du musst wissen, dass die Hauptstadt meines Heimatlandes als ‚Venedig des Ostens‘ bekannt ist. Auch sollte ich erwähnen, dass die Wurzeln meiner Familie in der Punjab-Region im alten Indien liegen. Ich sage ‚alt‘, weil der Geburtsort meiner Vorfahren heute zu einem anderen Land namens Pakistan gehört. Dieser neue Staat wurde vor 75 Jahren gegründet, als Großindien nach einem Bürgerkrieg aufgeteilt wurde, in dem über 10 Millionen Menschen entlang religiöser Linien vertrieben wurden.
Kulinarische Erlebnisse
Auf meiner Reise hatte ich die Gelegenheit, mehrere Menschen kennenzulernen, die nach Venedig ausgewandert sind. Viele von ihnen haben mir erzählt, dass Krieg der Hauptgrund war, warum sie ihr Heimatland verlassen mussten. Die erste Person, mit der ich gesprochen habe, ist ein Mann aus Zentralasien, der im Zentrum von Venedig mehrere Restaurants besitzt. Er kam vor 15 Jahren mit zwei Freunden hierher, um an den Internationalen Filmfestspielen von Venedig teilzunehmen, einem weltweit berühmten Filmfestival, das jedes Jahr stattfindet. Du fragst dich vielleicht, was ‚Film‘ genau bedeutet? Ich würde sagen, es ist eine moderne Version von dem, was man zu deiner Zeit Theater nannte. Im Alter von 25 Jahren kam dieser Mann hauptsächlich wegen des Films, doch als die Gewalt in seinem Heimatland zu dieser Zeit immer schlimmer wurde, beschloss er, Asyl zu beantragen. Ein paar Jahre, nachdem er sein neues Leben in Venedig begonnen hatte, führte ihn das Schicksal mit anderen Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern zusammen, mit denen er schließlich gemeinsam ein Restaurant eröffnete.
Die Karte des Restaurants namens ‚Orient Experience‘ basiert auf der Küche ihrer verschiedenen Heimatländer aus der östlichen Welt. Gleichzeitig ist aber jedes Gericht vom persönlichen Leben und den verschiedenen Erfahrungen der Migranten auf ihrer Reise nach Europa geprägt. Manche kamen auf dem Landweg hierher, andere überquerten hingegen unter Todesgefahr Meere in kleinen Fischerbooten. Manch eine Reise dauerte einen Monat, andere dauerten über ein Jahr. Alle diese Reisen voller Gefahren nahmen ihren Anfang mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Vor der Ankunft am Ziel mussten aber erst viele Orte passiert und zahlreiche Grenzen überquert werden. Die lokalen Speisen und Gerichte, die sie auf ihrem Weg gegessen haben, die Zutaten, die sie benutzt haben, und wie die eigenen Rezepte angepasst wurden – all das ist in das Menü eingeflossen. Die Restaurants vermitteln aber nicht nur ein Erlebnis des Orients. Es gibt auch ein Lokal namens ‚African Experience‘, dessen Menü, wie der Name schon vermuten lässt, von Erlebnissen afrikanischer Migranten inspiriert wurde. Ich hatte die Gelegenheit, das Essen in beiden Restaurants zu probieren, und habe das Gefühl, dass es sich um wahre Schmelztiegel von Kulturen und geteilten Erfahrungen handelt.
Meine kulinarischen Erlebnisse mit lokalen Speisen wurden fortgesetzt, als mich ein italienischer Freund zwei venezianischen Damen vorstellte, die mich zu einem hausgemachten Mittagessen einluden. Beide waren pensionierte Lehrerinnen. Die Dame des Hauses, wo ich eingeladen war, ist eine alleinerziehende Mutter, die heute Kunst schafft und ihren Ruhestand genießt, und ihre Freundin ist Schriftstellerin. Die beiden haben ein paar venezianische Gerichte für mich zubereitet. Zur Vorspeise gab es Tintenfisch in schwarzer Tintensoße. Manche Köche geben zwar Kirschtomaten dazu, die beiden Damen haben mir aber ganz stolz erzählt, dass die venezianische Version komplett schwarz ist! Um ehrlich zu sein, war die Farbe nicht gerade verlockend, aber köstlich war es auf jeden Fall. Die bevorzugte Pasta der Venezianer sind Bigoli Spaghetti, die ursprünglich aus der Region Venetien stammen. Ich hatte vorher noch nie Bigoli gegessen. Sie unterscheiden sich von anderen Pastasorten, weil sie aus grobkörnigerem Mehl gemacht werden. Auch war es das erste Mal, dass ich cicala di mare gegessen habe, eine Art Hummer, nehme ich an. Die traditionelle Küche ist wirklich nicht einfach zu kochen, daher war das etwas ganz Besonderes für mich. Die beiden hatten außerdem ein paar Freunde eingeladen, und wir haben den ganzen Nachmittag damit verbracht, zu essen und Geschichten auszutauschen. Außerdem habe ich ihnen meine Kunst gezeigt.
Bei diesem warmen und gastfreundlichen Mittagessen konnte ich dann auch den traditionellen Kuchen deiner Heimatstadt probieren, den sogenannten Pandoro oder ‚goldenes Brot‘. Mir wurde gesagt, dass dieser Kuchen bereits im 13. Jahrhundert vom venezianischen Adel gegessen wurde und bis heute in ganz Italien gerne zu Weihnachten gemacht wird. Es war zwar noch nicht Weihnachten, aber die Dame des Hauses gab mir zu verstehen, dass dieses Mittagessen für sie auch ein besonderer Anlass war. Es war für alle die erste Feier der Saison. Die von mir zubereitete indische Nachspeise, ein traditioneller gewürzter Milchtee, hat auch allen geschmeckt. Ich habe der Runde dann auch erzählt, wie es mich an meine verstorbene Mutter erinnerte, diese typische Nachspeise zu essen, und wie ihr Leben meine Kunst beeinflusst hat.
Ein magisches T-Shirt und mein Schicksal
Während wir in der Küche am Kochen waren, konnte ich auch die Geschichte erzählen, die sich hinter dem Hemd verbirgt, das ich an diesem Tag trug. Dabei handelt es sich um ein Stück Freizeitkleidung, das wir in der modernen Welt T-Shirt nennen. Ich habe das T-Shirt von einer Reise nach Pakistan mitgebracht. Tatsächlich handelt es sich um ein Kunstwerk, das mir ein junger indischer Künstler geschenkt hat, der gerade für eine Ausstellung dort war. Auf der Vorderseite ist ein Muster aus dem Wort ‚Gujranwala‘ zu sehen, dem Geburtsort meiner Mutter und der Heimat unserer Vorfahren, bevor diese nach Thailand ausgewandert sind. Darauf ist sowohl in Hindi als auch in Urdu das Zeichen einer Stadt gedruckt, gemeinsam mit einem kurzen Satz in beiden Sprachen, der ‚Es ist auch hier‘ bedeutet. Mir wurde gesagt, dass Gujranwala nicht nur der Name einer pakistanischen Stadt ist, sondern auch einen Vorort der indischen Hauptstadt bezeichnet. Wenn ich mir dieses und ähnliche T-Shirts des Künstlers anschaue, denke ich, dass er versucht hat, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen, das Grenzen überschreitet.
Dieses T-Shirt ist jetzt schon seit über zehn Jahren in meinem Leben und scheint inzwischen Teil meines Schicksals zu sein. Zunächst war es mir zu klein, doch ein paar Jahre später habe ich abgenommen und das T-Shirt mit nach Dubai genommen, einer reichen Stadt im Mittleren Osten, oder Arabien, die in der Wüste gebaut wurde. Während ich durch die Stadt ging, zeigte eine muslimische Frau auf das T-Shirt und sagte: „Das ist meine Heimatstadt!“. Sie sah glücklich aus, war aber auch neugierig, wie es sein konnte, dass ich ein solches T-Shirt trug, da ihre Heimatstadt nicht bekannt und normalerweise nicht auf Touristensouvenirs zu finden ist. Nachdem ich ihr die Geschichte erzählt hatte, die hinter dem T-Shirt steckt, hatte ich die Idee für ein neues Kunstwerk. Für den Rest meines Aufenthalts in Dubai trug ich das T-Shirt jeden Tag, während ich die Stadt erkundete. Und genau wie ich es erhofft hatte, lernte ich dadurch weitere Menschen aus Gujranwala kennen. Auch Punjabis aus anderen Orten und Menschen aus anderen südostasiatischen Gemeinschaften kamen auf mich zu – alles dank des Gujranwala-T-Shirts. Auf diesen Begegnungen erfuhr ich mehr über ihre Erlebnisse als Migranten, und wie es kam, dass sie heute in einer derart kosmopolitischen Weltmetropole lebten.
Nach ein paar Jahren war mir das magische T-Shirt wieder zu klein geworden. Weil ich es aber so liebe, beschloss ich, es in einer größeren Größe neu anfertigen zu lassen. Außerdem ließ ich ein paar mehr machen, sodass ich es häufiger tragen und auch ein paar T-Shirts an Freunde und andere Leute verschenken konnte, die darauf reagierten.
Vor etwa drei Jahren bin ich nach Rom gereist und habe mein neues Gujranwala-T-Shirt mitgenommen. Genau wie in Dubai habe ich es wieder jeden Tag getragen. Während ich dann durch die italienische Hauptstadt schlenderte, lernte ich einen pakistanischen Journalisten kennen, der seit über 20 Jahren in Italien lebte. Er hat sich sehr gefreut, als er mich in dem Gujranwala-T-Shirt gesehen hat, und sagte genau das Gleiche: „Das ist meine Heimatstadt!“. Wir wurden schnell Freunde und er hat mir mehr über die Geschichte der Inder in diesem Teil der Welt erzählt. Ich recherchiere jetzt schon seit über zehn Jahren zum Leben der indischen Diaspora, und dank dieser neuen Entdeckung konnte ich mehr über die südostasiatischen Gemeinschaften erfahren, die einst in einem einzigen großen Territorium vereint waren, das als indischer Subkontinent oder ‚Großindien‘ bekannt ist. Ich bin mir nicht sicher, wie die Region zu deinen Lebzeiten genannt wurde, geographisch betrachtet hat sie aber die Form einer Halbinsel, die sich über Süd- und Zentralasien erstreckt. Asiatischer Subkontinent ist eine weitere Bezeichnung, während der Begriff Südasien häufiger in Europa und Nordamerika verwendet wird.
Nebenbei bemerkt, ich habe vergessen zu berichten, dass ich im Laufe des letzten Jahres, als man nicht verreisen konnte, wieder abgenommen habe und das ursprüngliche T-Shirt wieder tragen kann! Das Essen in Venedig war so lecker, dass ich dort bestimmt wieder etwas zugelegt habe. Dennoch wird dieses Schatzstück hoffentlich auch auf zukünftigen Reisen weiterhin mein Schicksal leiten.
Über Desi und Khaek
Auf dieser Reise nach Rom habe ich auch das Wort ‚Desi‘ kennengelernt, mit dem man sich in Europa auf Menschen, Kultur und Produkte vom indischen oder südasiatischen Subkontinent und auf deren Diaspora bezieht. In meiner Heimat gibt es einen ähnlichen informellen Begriff, ‚Khaek‘, mit dem man sich auf Menschen indischer Herkunft bezieht. Wörtlich übersetzt heißt es ‚Gast‘. Häufig wird es aber etwas spöttisch verwendet, um deutlich zu machen, dass es sich um einen Außenseiter handelt. Als Kind hasste ich es, ‚Khaek‘ genannt zu werden, obwohl ich als thailändischer Staatsbürger geboren wurde und die Sprache genauso fließend spreche wie die Einheimischen. Das zu erleben, als ich aufgewachsen bin, hat mir ein Gefühl der Minderwertigkeit vermittelt. Es hat mich aber auch neugierig gemacht, wo meine Wurzeln liegen, und mich bei meiner Arbeit als Künstler inspiriert.
Hier in Venedig ist es gerade Winter, daher trage ich mein Gujranwala-T-Shirt meistens unter der Jacke. Ich habe aber trotzdem Menschen getroffen, die wie ‚Khaek‘ aussehen und keine Touristen sind. Ein paar von ihnen arbeiten in Restaurants und Hotels, andere verkaufen Souvenirs in den Straßen. In Mestre, das auf dem Festland von Venedig liegt, habe ich außerdem ein paar Ladenbesitzer auf dem Frischmarkt und jede Menge im Stadtzentrum getroffen. Dank meines ‚Khaek‘-Gesichts bin ich ganz leicht mit diesen Migranten in Kontakt gekommen, als ich so durch den Stadtteil schlenderte, und wir haben uns gleich brüderlich verbunden gefühlt! Auf deiner Reise durch Indien hast du bestimmt auch diese Art Mensch gesehen, oder? Was hast du gefühlt, als du uns zum ersten Mal gesehen hast?
Eine zweite Heimat fern von Zuhause
Auf meinen Reisen werde ich auch immer von Menschen aus meiner Heimat willkommen geheißen. Auf dieser Reise hat mir eine mit einem Venezianer verheiratete Thailänderin freundlicherweise angeboten, mir Venedig zu zeigen, und hat mich sogar einigen ihrer thailändischen Freunde vorgestellt, die dort leben. Die Willkommensparty wurde in einem chinesischen Restaurant abgehalten, das eine wirklich köstliche gebratene Ente serviert! Du hast sie bestimmt auch probiert, aber vielleicht war das ja überhaupt nichts im Vergleich zur Küche, die dir vom mongolischen Herrscher Kublai Khan kredenzt wurde? Bei mir Zuhause essen wir auch gerne chinesische Küche. Wir Thailänder brauchen aber immer Chili. Deshalb hat eine der Freundinnen ein hausgemachtes scharfes thailändisches Gericht zur Party mitgebracht. Der chinesische Koch durfte auch probieren. Es war ein wirklich lustiger Abend und nach ein paar Drinks hat uns der chinesische Restauranteigentümer dann noch eine schöne Flasche mit gutem Wein aus Venetien spendiert. Ein im Exil lebender Mann aus einem an mein Heimatland grenzendes Land setzte sich dann auch noch zu uns. Er trinkt zwar keinen Alkohol, redete dafür aber ohne Unterlass. Das hat, glaube ich, auch etwas mit der asiatischen Kultur zu tun. Wir reden und tratschen einfach unglaublich gern. Ich nehme an, das ist in deiner Kultur nicht anders. Deshalb hast du auch eine Million Geschichten zu erzählen, richtig? Oh, das hätte ich fast vergessen. Die thailändische Ausgabe deines Buchs heißt Die Wunder der Welt und eine Million Klatsch . Hoffentlich gefällt dir das.
Noch etwas „geistige Nahrung“ ...
Doch bleiben wir beim Thema Essen. Wusstest du, dass bis heute diskutiert wird, ob wirklich du es warst, der die Spaghetti aus China nach Italien gebracht hat? Es wird erzählt, dass diese langen Stränge aus einer Mischung von Mehl und Wasser von den chinesischen Nudeln stammen. Die Europäer behaupten hingegen, dass die Pastakultur bereits Jahrhunderte vor deiner Reise in den Osten unter den alten Griechen und später unter den Römern im Mittelmeerraum verbreitet war. Bei der Pizza gibt es ähnliche Zweifel. Einige historische Quellen sagen, dass sie ursprünglich aus Ägypten stammt, während andere denken, dass sie vom Brot beeinflusst wurde, das Inder und Araber bereits seit Jahrhunderten essen. Ich finde es immer amüsant, wenn ich erfahre, dass ein Gericht, das für mich Teil einer langjährigen kulturellen Tradition ist, eigentlich aus einem anderen Teil der Welt stammt. Das zeigt uns, dass wir vom Essen etwas über die Erfahrungen von Migranten lernen können.
... und eine Weintour natürlich!
Auch der Wein kann uns etwas über Migration beibringen. Eines Abends hat mich mein italienischer Freund zu fortgeschrittener Stunde in eine kleine Taverne an einem Kanal mitgenommen. Er erzählte mir, dass diese typischen Kneipen ‚bàcaro‘ genannt werden. Serviert werden Wein und venezianische Snacks, sogenannte ‚cichetti‘. In diesem ‚bàcaro‘ hier wird zum Beispiel um die Adria herum angebauter Wein serviert. In einem Gespräch mit dem Besitzer empfahl er mir, den Rotwein aus Griechenland zu probieren. Der Venezianer zeigte auf ein Bild an der Wand und begann, mir die Geschichte hinter seinem bàcaro zu erzählen, und warum er es nach der Adria benannt hat. Das alt aussehende Bild mit einem Boot, das bei Nacht Weinfässer über das Meer transportiert, zeigt, wie Wein von der Küstenstadt Pirano geschmuggelt wird. Wie ich dann erfuhr, reicht die Geschichte dieser Stadt an der Adria zurück in die Zeit des Römischen Imperiums. Außerdem war Pirano einmal Teil der Republik Venedig. Damals wurde sie teilautonom von einem Rat lokaler Edelleute regiert, die den venezianischen Delegierten zur Seite standen.
Nach deinem Ableben im Jahr 1324 wurde die italienische Halbinsel von ständigen Schlachten heimgesucht und leider muss ich dir berichten, dass deine Heimatstadt auch einmal von einem Franzosen namens Napoleon Bonaparte erobert wurde, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die französische Vorherrschaft über einen Großteil des kontinentalen Europas errichtete. Die Kämpfe hielten bis zum Zusammenbruch von Napoleons Regime an und anschließend wurde Pirano Teil des österreichischen Königreichs. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einen weiteren großen Krieg zwischen europäischen Territorien, den Balkankrieg. Dieser führte schließlich zu weltweiten Kämpfen, die später als der 1. Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollten. Nach seinem Ende wurde Pirano gemeinsam mit Venedig und ganz Istrien an das italienische Königreich abgetreten. Einige Jahre später fand der 2. Weltkrieg statt, den die Italiener verloren. Das führte zur Gründung der Republik Italien, wie wir sie heute kennen.
Um diesen Teil der Weltgeschichte besser zu verstehen, zeigte der Besitzer des bàcaro mir dann auch noch ein bebildertes Buch, das er geschrieben hat. Der Titel des Buchs lautet Malvasia, eine Art von Wein, die von jeher im Mittelmeerraum angebaut wird. Es wird angenommen, dass die Malvasia-Traubenfamilie alten Ursprungs ist und höchstwahrscheinlich von der Insel Kreta in Griechenland stammt. Dank der erfolgreichen venezianischen Händler hat sich der Malvasia-Wein unter Weinliebhabern auf dem ganzen Kontinent einen Namen gemacht und viele bàcaros in Venedig, in denen Weine aus diesem Teil der Welt serviert wurden, waren sogar als ‚malvasie‘ bekannt. Doch als Venedig an Italien fiel, verschwanden diese Lokale, nachdem die Steuern auf importierte Weine erhöht worden waren. Dennoch gab es immer noch Schmuggler, die Weine über die Grenze brachten. Deshalb wollte er einen bàcaro aufmachen, wo man Weine von der Adria trinken kann. Er erklärte mir, dass die Adria für ihn wie eine Brücke sei, die verschiedene Kulturen und Menschen von der italienischen Halbinsel miteinander verbindet.
Meine Weinforschung und Geschichtsstunde wurden dann auf der Friedhofsinsel von Venedig fortgesetzt, wo ich die beiden pensionierten Lehrerinnen noch einmal traf. Die beiden sind Mitglieder einer Vereinigung namens ‚Lagune im Glas‘. Dieser Name hat ganz offensichtlich etwas mit der venezianischen Lebens- und Weinkultur zu tun. Sie stellten mir ein paar ihrer Freunde vor, die wichtige Positionen in der Gruppe einnehmen. Diese wurde vor etwa 15 Jahren von einem inzwischen verstorbenen venezianischen Lehrer gegründet, der auf dieser Insel in einer verlassenen Kirche eine historische Weinkellerei gefunden hat. Sie erklärten mir die Geschichte und erwähnten, dass dieser Ort zu deinen Lebzeiten ein kleines Kloster namens San Cristoforo war. Unter französischer Besatzung wurde ein Dekret erlassen, dass Bestattungen auf der Hauptinsel unhygienisch seien, und so wurde diese Fischerinsel zum Friedhof erklärt. Heute ist sie unter dem Namen San Michele bekannt.
Der Direktor der Vereinigung führte mich durch die verlassene Kirche und erklärte mir, wie man früher Wein machte. Außerdem zeigte er mir verschiedene Arten von Gefäßen und machte mich auf einen Krug aus Terracotta aufmerksam, eine Art Steingut namens ‚qvevri‘. Diese werden für eine der wohl ältesten Methoden der Weinfermentation verwendet, die aus Georgien stammt, einem Land zwischen Osteuropa und Westasien. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch in China bereits Wein hergestellt. Dort wurden Krüge aus Jiahu gefunden, die auf circa 7000 v. Chr. datiert werden. Doch wie du ja weißt, wurde der Wein in der östlichen Welt nicht aus Trauben gemacht. Durch deine Beschreibung bestimmter Orte und der jeweiligen Sitten haben wir wertvolle Informationen zu den verschiedenen Getränken des Orients erhalten. Auf deinen langen Reisen hast du alles Mögliche entdeckt, von alkoholischen Getränken aus fermentiertem Weizen oder Reis bis hin zu ‚Kelchen voller Wein oder Milch‘ auf dem Tisch des Großen Khan sowie Wein aus Datteln, Gewürzen, Früchten und anderen Lebensmitteln. Im Laufe der Tausende Jahre alten Geschichte der Menschheit haben Kulturen aus aller Welt ihre eigenen alkoholischen Getränke fermentiert. Während für manche der Sinn des Reisens darin liegt, die Weltwunder zu besuchen, ist es für mich immer ein genüsslicher Bonus, die leckeren Weine aus aller Welt zu entdecken. Da ich selbst aus einem Land komme, in dem es als Sünde gilt, Alkohol zu trinken, war ich sehr überrascht, dass die alkoholischen Getränke zu deiner Zeit von Mönchen hergestellt wurden, und dass das bis heute noch so ist!
Die Vermessung der Welt ... und der Himmel auf Erden!
Die Friedhofsinsel hatte aber noch mehr zu bieten als die Geschichte der Weinherstellung und eine Weinverkostung. Ich habe auch eine faszinierende Weltkarte entdeckt, die sogenannte Fra Mauro. Diese wurde nach einem italienischen Kartographen benannt, der sein Leben hier als Mönch zubrachte, als es auf der Insel noch eine Kirche gab. In den Unterlagen des Klosters ist verzeichnet, dass er hauptsächlich als Pachteintreiber des Klosters tätig war. Als er noch ein Händler war, galt seine ganze Leidenschaft allerdings dem Reisen. Als Mönch konnte er nun zwar nicht mehr frei durch die Lande ziehen, er sprach aber regelmäßig mit den Händlern in der Stadt, wenn diese von ihren Reisen nach Übersee zurückkehrten. Das inspirierte ihn, eine Weltkarte zu erstellen, was mehrere Jahre in Anspruch nahm. Fertiggestellt wurde die Fra Mauro etwa 120 Jahre nach deiner Verabschiedung aus dieser Welt. Sie gilt als eines der größten Denkmäler mittelalterlicher Kartographie. Damals war sie die detaillierteste und genaueste Darstellung der Welt, die es bis dahin gab. Ich glaube, er muss sich auch auf deinen Bericht bezogen haben, da die Karte alle deine Orte in Asien nennt. Allerdings stehen sie Kopf, also mit dem Süden nach oben. Außerdem beinhaltet seine Karte Hunderte detaillierter Abbildungen und etwa 3.000 beschreibende Texte mit den geographischen Kenntnissen, die er von den Seeleuten zusammengetragen hat, mit denen er gesprochen hatte.
Seltsam finde ich auch, dass diese Weltkarte eine Abbildung des Himmels beinhaltet. Mir wurde zwar erklärt, dass man damals getreu den religiösen Überzeugungen gerne Symbole des Himmels in die Karten aufnahm. Das hier war aber das erste Mal, dass der Himmel außerhalb der Welt auf einer Karte gezeigt wurde. Wenn man das bedenkt, frage ich mich, ob dieser Mönch wohl viel von der Vorstellung des Himmels auf Erden gehalten hat. Die Menschen in meiner Heimat sagen gerne, dass das Zuhause ihre Vorstellung vom Himmel sei und dass von seiner Familie umgeben zu sein das ewige Paradies sei, was überall sein kann. Als Weltreisender mit deinem Kultstatus, wo befindet sich deiner Meinung nach der Himmel auf Erden?
An dieser Stelle würde ich gerne eine lustige Definition vom Himmel aus der modernen Welt mit dir teilen. Beim Trinken eines guten Weins in Venedig musste ich an ein kleines Schild denken, das früher bei mir in der Küche hing. Wie ich später erfuhr, handelt es sich um einen irischen Trinkspruch. Der Spruch stammt von einem einflussreichen irischen Dichter und geht übersetzt in etwa so: „Wenn wir trinken, werden wir betrunken. Wenn wir betrunken werden, schlafen wir ein. Wenn wir schlafen, sündigen wir nicht. Wenn wir nicht sündigen, kommen wir in den Himmel. Also ... Lasst uns alle betrunken werden und in den Himmel kommen!“
Es stimmt schon, auf der Erde gibt es Himmel zu entdecken, und wir sollten jeden Augenblick genießen, findest du nicht auch?
Entdeckungen ... und deine Hinterlassenschaft
Du warst nicht der erste Europäer, der Asien oder den Orient bereist hat. Doch deine berühmte Expedition, die 1271 begann und beinahe 25 Jahre dauerte, trug sicherlich zur Faszination der westlichen Welt für den Osten bei. Außerdem wurde dadurch Zentralasien, Indien und China zu einer größeren Bedeutung auf der westlichen Karte verholfen, und die weitere Erkundung dieses Planeten wurde vorangetrieben. Wie in einem deiner biographischen Berichte zu lesen ist, hast du dich selbst nie als Entdecker betrachtet, sondern immer den Begriff des ‚Wanderers‘ vorgezogen. Dennoch hast du mit deiner Herangehensweise an das Reisen, bei der du alles auf eine Karte setzt, eine ganze Generation von Weltreisenden inspiriert. Unter deinen Gefolgsmännern war auch ein junger Landsmann aus Genua, der eine abgegriffene Kopie deines Buchs auf seine Reisen mitnahm. Was er allerdings nicht wusste, war, dass das mongolische Imperium zur Zeit seiner geplanten Reise in den Osten bereits gefallen war. Und so machte er sogar Pläne, in deine Fußstapfen zu treten und den Nachfolger Kublai Kahns zu treffen. Während er also einen Plan schmiedete, einen westlichen Seeweg nach Ostindien zu finden, in der Hoffnung, von dem lukrativen Gewürzhandel zu profitieren, führte ihn das Schicksal dazu, aus Versehen die ‚Neue Welt‘, also Amerika, wiederzuentdecken.
Die Nachricht von den Reisen diesen jungen Entdeckers namens Christoph Kolumbus verbreitete sich schon bald in ganz Europa und führte zum sogenannten Zeitalter der Entdeckungsreisen. Während dieser Zeit segelten europäische Schiffe auf der Suche nach neuen Handelsrouten und -partnern um die ganze Welt, um den wachsenden Kapitalismus in Europa zu finanzieren. Dabei entdeckten die Europäer neue Völker und kartierten Länder, die ihnen bis dahin unbekannt waren. Während dieser Phase vom frühen 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert war die Welt in neuen Technologien und Ideen verankert, die aus der Renaissance stammten und den Übergang vom Mittelalter zur Moderne markierten.
Als erste Person, die der westlichen Zivilisation beschrieb, wie Papiergeld in der Welt benutzt wurde, bist du vielleicht daran interessiert zu hören, dass wir uns gerade in das Zeitalter einer bargeldlosen Gesellschaft begeben. Wie auch immer, du kannst stolz darauf sein, dass dein auch heute noch vertrautes Bild einmal auf einer Banknote deiner Nation zu sehen war. Doch obwohl dein Name Millionen bedeutet, erschien dein Bild nur auf der 1.000 Lira-Note. Dabei war die höchste Banknote die über 500.000 Lira. Nun ja, diese italienische Währung wird sowieso nicht mehr benutzt, aber dein Vermächtnis lebt weiter. Neben einer Reihe von Gedenkmünzen, mit denen dir sowohl Italien als auch China ihre Ehrerbietung erwiesen haben, sind deine berühmten Porträts und Abbildungen deiner legendären Reise auch auf dem Modell einer neuen Generation von Währung, der sogenannten ‚Housenote‘, erschienen. Diese war ein Vorschlag der Republik Kasachstan, einem transkontinentalen Land an einem historischen Scheideweg entlang der Seidenstraße, das du vor seinem Fall nach dem Kollaps des mongolischen Imperiums besucht hast.
Außerdem kannst du darauf stolz sein, dass viele Reiseagenturen und -läden deinen Namen angenommen haben. Das berühmteste Beispiel ist hier wohl der Marco Polo Flughafen in Venedig. Allerdings sollte ich hier noch erwähnen, dass dieser moderne Hafen in deiner Heimatstadt für Flugreisen und nicht für Seereisen benutzt wird. Dafür haben wir einem Künstler aus der Renaissance zu danken, der ebenfalls ein Landsmann von dir war. Dank seiner Vorstellungskraft hat er eine Flugmaschine mit schlagenden Flügeln erfunden, mit der die Menschen tatsächlich das Fliegen gelernt haben! Während du noch über drei Jahre gebraucht hast, um den Fernen Osten zu erreichen, war ich in weniger als einem Tag aus meiner Heimat hier. Niemand weiß, was die Zukunft für unsere Welt bereithält, aber heute kann die Menschheit bereits zum Mond fliegen und mit fliegenden Teleskopen das Universum erkunden. Es wird dich vielleicht auch überraschen zu hören, dass man heute sogar in virtuelle Welten reisen kann. Für mich ist es allerdings immer noch wichtig, auch echten Kontakt mit echten Personen zu haben. Aus diesem Stoff werden epische Geschichten gemacht, und nur so kann man die verschiedenen Kulturen dieser Welt wirklich aus eigener Hand erleben. Habe ich nicht Recht, Maestro Polo?
Alle Straßen führen nach ... Venezia
Als ich zuvor über die Wurzeln meiner Familie sprach, habe ich den Begriff ‚Diaspora‘ erwähnt. Das Wort bedeutet ‚Zerstreuung‘ und bezieht sich ursprünglich auf die Juden, die aus Babylonien vertrieben wurden. Heute wird der Begriff, der aus dem Altgriechischen stammt, auch für Gruppen von Migranten verwendet, die aus den Heimatländern ihrer Vorfahren ausgezogen sind und dabei ihre Kultur mitgenommen haben. Venedig ist natürlich in erster Linie für sein wertvolles und einzigartiges Kulturerbe weltweit berühmt. Anfang dieses Jahres feierten die Venezianer aber auch ihre Geschichte als Stadt, die seit 1.600 Jahren Migranten willkommen heißt. Nachdem sie vor den Angriffen der Barbaren vom Festland geflohen waren, bauten Nomaden der Küstenbevölkerung, die heute Flüchtlinge heißen würden, eine Gruppe von schwimmenden Inseln in der Mitte der Lagune von Venedig. Das ist vielleicht auch mit der Grund dafür, dass eins der weltweit berühmtesten und beliebtesten Reiseziele auch heute noch aus verschiedenen Diaspora-Gemeinden zusammengesetzt ist.
Während ich versuchte, mehr über die verschiedenen ethnischen Gruppen zu erfahren, die es in Venedig gibt, brachte man mich unter anderem zu einer weniger bekannten Insel, auf der eine armenisch-orthodoxe Kirche steht. Nachdem sie als Leprakolonie gedient hatte, war die Insel bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts unbewohnt. Damals wurde sie dann einem armenischen Mönch überlassen, der vor seinen türkischen Verfolgern geflohen war. Bis heute dienen die Gebäude als wichtiges Kloster, Bibliothek und Heiligtum der armenischen Geschichte und Kultur. Zurück auf der Hauptinsel wurde mir dann auch die Stelle auf dem geschäftigen San Marco Platz gezeigt, wo ihre ehemalige Kirche einst stand. Außerdem gibt es eine nach den Armeniern benannte Gasse. Alle diese Überreste zeigen, dass es bereits lange vor der Ankunft ihres angesehenen Mönchs eine armenische Gemeinde in der Lagune von Venedig gab.
Da Venedig zu einer der größten Städte Europas heranwuchs und Hauptstadt eines großen Handelsimperiums wurde, das sich bis weit in den östlichen Mittelmeerraum erstreckte, gibt es in der langen Geschichte der Stadt bestimmte Teile, die Verbindungen zum Osmanischen Reich und zu den muslimischen Zivilisationen aus dem Nahen Osten herstellten . So wurde ich einem iranischen Händler vorgestellt, der als Präsident einer Vereinigung fungiert, die die persische Kultur hier fördert. Er ist zwar Besitzer einiger Geschäfte, widmet sich aufgrund seiner aufopfernden Liebe für die Wurzeln seiner Vorfahren aber auch verschiedenen kulturellen Aktivitäten aus der islamischen Welt, die in Italien abgehalten werden. Als ich seinen Teppichladen besuchte, hieß er mich mit ein paar traditionellen Süßigkeiten aus seiner Heimat willkommen, die für mich so ähnlich wie indische Süßigkeiten schmeckten. Außerdem kredenzte er mir einen Kräutertee mit Safran. Wie du vielleicht weißt, stammt der Safran ursprünglich aus dem Iran und ist schon seit Langem nach Gewicht das teuerste Gewürz der Welt. Der Iraner erzählte mir dann, dass der Safran damals, wahrscheinlich ungefähr zu deinen Lebzeiten, ein Schatz unter den exotischen Waren und Gewürzen war, die iranische Händler hierher brachten. Es hat mich echt überrascht, dass man damals für einen Koffer voll Safran einen Palazzo am Canal Grande bekommen konnte! Auch erklärte er mir, dass diese Händler den venezianischen Dogen und Edelleuten luxuriöse Geschenke mitbrachten, und zeigte mir zum Beweis einen kleinen persischen Teppich aus seiner Kollektion, der aus dem 17. Jahrhundert stammte . Seinen genauen Wert teilte er mir nicht mit, nur dass es das teuerste Stück aus seiner Kollektion war. Übrigens sollte ich noch erwähnen, dass sein anderer Teppichladen Marco Polo heißt. Ich frage mich, ob du wohl auch einmal einen Teppich aus dem Orient mit zurück nach Hause gebracht hast. Wenn ja, dann wäre er heute ein absolutes Vermögen wert!
Reflexionen über das Leben
Bei den Geschichten, die man mir über Venedig erzählte, wurde mir bewusst, dass die Geschichten über die frühe Ansiedlung bestimmter Gemeinschaften ein sensibles Thema sein könnten. Mein Hauptinteresse gilt dabei dem Begriff ‚Ghetto‘, der vor etwa 500 Jahren für einen Platz in Venedig geprägt wurde, wo die Juden getrennt von den anderen Stadtbewohnern leben mussten. Später wurde dieser Begriff weltweit für stark besiedelte Stadtgebiete verwendet, in denen die Mitglieder einer Minderheitengruppe leben. Diese Orte stehen oft für Chancenlosigkeit und die Verarmung ihrer Bewohner. So wird der Begriff heute verwendet, um bestimmte Gebiete oder Minderheiten zu isolieren, zu trennen oder zu ghettoisieren, und gilt vielen als rassistisch, da er andeutet, dass sich die Mitglieder einer bestimmten Gruppe von anderen Teilen der Gesellschaft unterscheiden.
Als ich mich mit einem Nachkommen der jüdischen Gemeinde von Venedig unterhielt, musste ich an meine Mutter denken, die nie über ihre eigene Emigration gesprochen hat. Vielleicht wollte sie ja nicht, dass ihre Kinder etwas über die Schrecken vergangener Konflikte erfuhren oder davon beunruhigt wurden. Welche Gründe sie auch gehabt haben mag, ich habe ihre Geschichte auf jeden Fall erst recherchiert, als ich selbst Vater geworden und meine Mutter bereits gestorben war. Dieser Prozess hat mich dazu gebracht, Kunstwerke zu kreieren, nicht nur die Lebensgeschichte meiner Familie beschreiben, sondern auch die Geschichte all der verschiedenen Gemeinschaften , über die ich mehr erfahren hatte.
Was ich auch noch erwähnen wollte, ist mein kurzer Besuch bei einem rumänischen Kulturinstitut in Venedig. Ich muss zugeben, dass ich absolut nichts über die Geschichte und Kultur der Rumänen wusste. Als ich herausfand, dass sie heute die größte Gruppe unter der Migrantenbevölkerung in ganz Italien darstellen, bin ich aber neugierig geworden. Natürlich konnte ich nur mit ein paar von ihnen sprechen, im Gespräch mit einer rumänischen Künstlerin, die hier eine Ausstellung macht, wurde mir aber klar, dass ihre Kunst persönliche Lebenserfahrungen widerspiegelt. Gleichzeitig hilft sie uns dabei, uns mit anderen zu identifizieren und unseren Platz in der Geschichte kennenzulernen. Als ich mich dann mit dem Direktor darüber austauschte und eine Reihe von seinen Büchern zur angestammten Heimat durchging, wobei er auch seine Überlegungen zur Welt von heute teilte, musste ich noch einmal daran denken, wie sich Kunst auf die Kultur und unsere Gesellschaft auswirkt. Ich frage mich, welche Rolle der Künstler wohl damals in deiner Epoche eingenommen hat und ob du dir wohl jemals eine Kunstform vorgestellt hast, die eines Tages die Welt verändern könnte?
Pandemie und eine Frage des Überlebens
Venedigs Ruf als Handelsdrehscheibe und Ort von großer künstlerischer und kultureller Bedeutung ist legendär, weniger geschätzt wird hingegen die wichtige Rolle, der Stadt im Kampf gegen die tödlichste Krankheit, die jemals in der Menschheitsgeschichte verzeichnet wurde. Der sogenannte Schwarze Tod war eine ansteckende Pest, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein Drittel der Bevölkerung in Europa dahinraffte, in etwa 20 Jahre nach deinem Ableben. Lange bevor der Begriff ‚Pandemie‘ für die schnelle, weltweite Ausbreitung einer plötzlich auftretenden Krankheit geprägt wurde, hat man in der Lagune von Venedig bereits einige abgelegene Inseln dafür benutzt, von der Pest Befallene zu isolieren und zu behandeln. Damals mussten Schiffe, die aus von Seuchen befallenen Häfen in Venedig einliefen, 40 Tage ankern, bevor sie anlegen durften. Diese Praxis wurde unter dem Namen ‚Quarantäne‘ bekannt, der aus dem italienischen Ausdruck quaranta giorni abgeleitet wurde und wörtlich 40 Tage bedeutet. Wie ich bereits erwähnt habe, musste auch ich zu Beginn meines Aufenthaltes hier in Quarantäne. Allerdings hatte ich Glück und musste mich nur zehn Tage lang isolieren!
Ich sollte wohl auch noch erwähnen, dass die venezianische Maskenkultur heute auch im Rest der Welt angekommen ist. Seit zwei Jahren wird unsere Welt von einer neuen Art von Pandemie heimgesucht, und wir haben uns daran gewöhnt, jeden Tag Masken zu tragen. Der Karneval oder irgendein anderes Fest haben damit aber nichts zu tun. Im Gegenteil, die Masken, die wir alle rund um den Globus gerade tragen müssen, sollen unser Überleben sichern! Auf jeden Fall hoffen wir alle, dass diese unvorhergesehen Krankheiten bald enden, damit wir uns alle wieder ungehindert unserem absurden Leben in dieser schönen Welt widmen können.
Ein kurzer Trip nach OK World und Navinland
An dieser Stelle würde ich gerne einen weiteren Begriff einführen, der heute das wohl häufigste gesprochene oder geschriebene Wort auf dem Planeten ist. Geschrieben wird es einfach als OK. Seine Bedeutung ist ‚zufriedenstellend‘ oder ‚akzeptabel‘, im Gegensatz zu ‚schlecht‘. Der Ursprung des Wortes OK liegt in der westlichen Welt. Für mich persönlich ist es jedoch Teil meiner Herkunft, da das Stoffgeschäft meiner Familie in Thailand OK Store heißt. Als mein Urgroßvater und unsere Vorfahren damals nach Thailand auswanderten, konnten sie die Sprache ihrer neuen Heimat noch nicht sprechen. Auch ihr Äußeres war eindeutig anders und den Einheimischen fremd. Daher suchten sie immer nach Möglichkeiten, ihre eigene Kultur und ihr Leben in die neue Umgebung zu integrieren. Eine Methode war durch die Namen ihrer Geschäfte. Da die meisten Punjabis im Stoffhandel tätig waren, gaben sie ihren Geschäften gerne Namen, die positiv, verheißungsvoll oder einladend klangen. Für unsere Marke fiel die Wahl auf OK. Ich bin mir nicht sicher, wie oder warum für unser Geschäft so ein universelles Wort gewählt wurde. Es führte jedoch dazu, dass ich mit einem Vater aufwuchs, der vor Ort nur als Mister OK bekannt war.
Leider wurde OK Store vor kurzem geschlossen, nachdem mein Vater gestorben war. Laut indischer Tradition hätte eigentlich einer der Söhne das Familiengeschäft übernehmen sollen. Sowohl mein Bruder als auch ich hatten aber eine andere Richtung im Leben eingeschlagen. Mich hat das Schicksal zum Beispiel nach Japan verschlagen, wo ich eine Japanerin geheiratet habe und wo unsere Tochter geboren und aufgewachsen ist. Trotz des Generationswechsels in meiner Familie habe ich aber immer daran geglaubt, dass unser Erbe wichtig ist und dass meine angestammten Wurzeln irgendwie bewahrt werden sollten. Darum habe ich in mehreren meiner künstlerischen Aktivitäten die Definition von OK erforscht und gleichzeitig meine persönlichen Ansichten der Gemeinschaften reflektiert, zu denen ich gereist bin. Hier in Venedig habe ich verschiedenen Bekanntschaften von meiner ‚OK Welt‘ erzählt. So richtig verstanden hat es aber scheinbar niemand. Dennoch glaube ich, dass es für uns alle wichtig ist, ein Leben zu führen, dass OK ist.
Außerdem würde ich dir hier gerne die Geschichte von Navinland erzählen, einem imaginären Ort, der von meinem Namen inspiriert wurde. Auf Sanskrit bedeutet Navin ‚neu‘, in meiner Heimat ist damit hingegen ein Seefahrer gemeint. Auch der Begriff Navigator hat den gleichen Wortstamm wie Navin. Vor etwa zehn Jahren habe ich beschlossen, Navins aus allen möglichen Gesellschaftsschichten zu suchen, und habe sogar eine offizielle Navinland-Erklärung geschrieben, die wir alle unterzeichnen konnten. Dieses Ereignis hat genau hier stattgefunden, auf einer historischen Ausstellung für internationale Kunst, bekannt als die Biennale von Venedig. Ziel war es, weltweit Anerkennung für unsere grenzenlose Gemeinschaft zu finden, unsere Nicht-Nation für ein wachsendes Kollektiv von Navins und Navizens genannten Freunden.
Ich freue mich zu berichten, dass ich auf meiner letzten Reise nach Venedig auch auf einen neuen Teil der Navin-Welt gestoßen bin, und zwar als ich den iranischen Händler getroffen habe, den ich oben bereits erwähnte. Während er mir die lange Geschichte der persischen Kultur erzählte, und wie seine Vorfahren eine Verbindung zum venezianischen Leben herstellten, servierte er mir einen ‚Novin‘, eine Marke Safran-Tee, die wahrscheinlich auf den Namen des Markeneigentümers zurückzuführen ist. Überraschenderweise bedeutet dieses arabische Wort ebenfalls ‚neu‘. Er hat sogar gesagt, dass ich möglicherweise von den Parsen abstamme, einer ethnisch-religiösen Gruppe vom indischen Subkontinent, die ihren Ursprung in seinem Heimatland hat. Ich hatte nie darüber nachgedacht, aber seine Vermutung zeigt, dass es in der Navin-Welt immer etwas Neues zu entdecken gibt!
Und schließlich, zurück in die Realität
Der Grund, warum ich hier bin, ist die Teilnahme an der 59. Biennale von Venedig, die wegen des Ausbruchs der Pandemie um ein Jahr verschoben wurde. Ich war jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr in Navinland und meine ursprünglichen Pläne für OK World sind verblasst, und dieser besondere Augenblick in unserer Welt lässt mich neue Ideen für meine Arbeit durch Erfahrungen aus dem echten Leben suchen. Einmal mehr begann alles mit einer Reise. Heute herrscht das Zeitalter der sogenannten ‚Neuen Normalität‘, eine Zeit, in der es nicht so einfach ist, die Welt zu bereisen, wie es bis vor kurzem noch war. Daher bin ich froh, dass mein Pass mal wieder einen Stempel bekommen hat, nachdem er die letzten 20 Monate nicht benutzt wurde! Ich hatte wirklich viel Spaß hier, als ich mehr über deine Heimatstadt erfahren und jede Menge Venezianer kennengelernt habe. Sicherlich habe ich ein paar Teile ihrer Geschichte ausgelassen, aber die vielfältigen Gemeinschaften hier haben mich angeregt, über mich selbst nachzudenken und wie ich durch meine künstlerische Praxis reagieren sollte.
Abschied ... und schöne Erinnerungen
Mein letzter Tag in Venedig war wirklich etwas ganz Besonderes! Eine deutsche Dame, die ich bei dem Mittagessen in der Weinkellerei auf der Friedhofsinsel getroffen hatte, lud mich auf ihr Boot für eine Fahrt über die Lagune ein. Es war eiskalt an diesem Nachmittag, aber ich habe es wirklich genossen, mit ihr über den Canal Grande zu segeln. In einem Gespräch, das ich mit ihr und meinem italienischen Freund auf dem Boot führte, erklärte sie mir, dass Heimat für sie ein Ort ist, an dem man sein Privatleben mit anderen teilen kann, egal wo man gerade lebt. Das hat mich wirklich beeindruckt.
Für meine Abschiedsparty hat die andere der beiden pensionierten Lehrerinnen, die mein erstes venezianisches Mittagessen gekocht hatten, ein paar ihrer Freunde zu sich nach Hause eingeladen. Wir haben in verschiedenen Sprachen miteinander kommuniziert, aber es war einfach wunderbar, ihre Geschichte zu hören, als sie mir jede Menge Fotos ihrer Vorfahren zeigte. Außerdem gab es Fotos von ihren Reisen zu meinen Wurzeln, sowohl in Indien als auch in Thailand. Neben dem sogenannten ‚Film‘, den ich zu Beginn meines Briefes erwähnt habe, fragst du dich jetzt vielleicht, was ein ‚Foto‘ ist, nicht wahr? Ich würde sagen, dass beide dazu dienen, die Realität aufzuzeichnen, die wir sehen. Das Foto wurde vor der Einführung des Films erfunden, der sich bewegende Bilder aufzeichnen kann. Wie du siehst, dienen diese Erfindungen nicht nur der Unterhaltung, sondern können auch Erinnerungen wieder wachwerden lassen.
Mein Diorama und eine Beschreibung der Welt
Morgen fahre ich zurück nach Hause, aber ich freue mich schon, im Frühling für die nächste Biennale von Venedig wiederzukommen. Was meine Arbeit zu diesem Anlass angeht, plane ich eine Freilichtbühne mit einem großen Wandgemälde im Hintergrund aufzubauen, das meine Herkunft zum Thema hat. Unterdessen würde ich gerne die Grenzen der Kultur ausloten, und zwar anhand eines sogenannten Dioramas, ein weiterer Begriff aus dem Altgriechischen, der eine Art Gerät zum Anschauen von Bildern oder ein mobiles Theater bezeichnet. Wortwörtlich bedeutet der Begriff ‚durch das, was gesehen wird‘. In meinem Fall wird das Diorama also das zeigen, was ich beim Besuch deiner Heimatstadt gesehen habe und meine persönlichen Erlebnisse, die mit all den erzählten Geschichten verbunden sind. Neben diesen Erzählebenen ist es auch meine Hoffnung, dass diese Diorama-Bühne auf dem Giardini-Gelände als offene Plattform dient, wo die Menschen ihre Erlebnisse miteinander austauschen können.
Während ich diesen Brief schreibe, denke ich darüber nach, wie ich dieses Kunstwerk nennen könnte, und möchte dich mit Verlaub bitten, den Titel deines Buches, The Description of the World, für die Arbeit verwenden zu dürfen, von der ich träume. Ich muss zugeben, dass meine Geschichte nichts im Vergleich zu deinem großen Abenteuer ist. Aber immerhin hast du mich dazu inspiriert, alles niederzuschreiben, auch wenn ich immer noch ein paar Zweifel habe, was diesen ersten Versuch der Kontaktaufnahme angeht. Natürlich ist diese Kommunikation nur ein Produkt meiner Fantasie, ich hoffe aber, dass die Erzählung aus deiner Heimatstadt ein Spiegelbild unserer Zeit und der vielen und vielfältigen Leben in dieser sich stets wandelnden Welt ist. Außerdem hoffe ich, dass das, was ich aus diesem persönlichen Reisebericht heraus kreiere, eine Verbindung zwischen meiner Kunst und ganz normalen Menschen schafft.
Während du auf dem Sterbebett lagst, wollte man dich dazu zwingen einzugestehen, dass dein Buch voller Lügen war, doch du bist stattdessen mit den Worten ‚Ich habe nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gesehen habe‘ aus dieser Welt geschieden. Ich finde, das ist ein großartiges Zitat, da es den Unterschied zwischen unseren echten Erlebnissen und den Erinnerungen aus irgendeiner Art von Aufzeichnung hervorhebt. Diesem Brief beigelegt findest du eine Auswahl von Fotos, die unter mehreren Tausend ausgewählt wurden und – gemeinsam mit dem umfangreichen Filmmaterial – während meines Aufenthalts in Venedig entstanden sind. Natürlich ist darauf weniger als die Hälfte von dem zu sehen, was ich tatsächlich mit eigenen Augen gesehen habe, eins ist aber sicher: Sie halten einen weiteren großartigen Augenblick in meinem Leben fest!
Ich hoffe wirklich, dass dir diese Geschichten aus der Zukunft in meiner Version von The Description of the World gefallen. Mein millionenfacher Dank, Mister Million!
Ciao
Navin
17. Dezember 2021
Venedig
Biennale Arte 2022: Zeit für Träume
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Die Biennale Arte 2022 kehrt dieses Jahr in einer eindrucksvollen 59. Ausgabe nach Venedig zurück. Einmal mehr sind wir als Hauptpartner dabei.